Dörte Behns Schaffen steht damit in einer Tradition der Welterschließung, die lange vor dem Minimalismus der 1960erJahre beginnt, mit dem man ihre Kunst auf den ersten Blick verbindet. Dass ihrem Künstlersein ein Studium der Medizin, Philosophie und Sinologie vorausging, erscheint in diesem Zusammenhang als logische Voraussetzung und spricht von der engen Verbindung, die Kunst und Wissenschaft im Sinne eines forschenden Tuns eingehen können.
Zunächst sind es die eigenen vier Wände, die Wohnungen und Ateliers in denen sie gelebt und gearbeitet hat, deren Maße die Künstlerin in Grundrissen aufnimmt; bald dann das Zuhause von Freunden und Bekannten. 5 Dörte Behn eignet sich die Orte, auf die sie trifft und die sie umgeben, auf diese Weise an; denn sobald die Umrisse auf dem Papier zu stehen gekommen und damit die Grunddaten erhoben sind, werden Linienverläufe und Flächen analysiert,
in Formen zerlegt, neu kombiniert und in ihren Volumina verändert. Diesen Prozess einer stetigen Wandlung und Weiterentwicklung, bei dem sie fließend zwischen verschiedenen künstlerischen Medien wechselt, beschreibt die Künstlerin als meditativ und „mit den Händen denken“. Dass sie dabei auch experimentell vorgeht, zeigt sich nicht zuletzt an den meist bescheidenen und leichten Materialien, mit denen es Dörte Behn gelingt, sensible und fragile Objekte gleichsam „in die Luft zu zeichnen“.
Nach dem Ende einer Präsentation werden die systematisch konstruierten Einzelteile platzsparend in Kisten verräumt: Auch das letztlich ein Vorgang der WeltOrtung und Ordnung.
Wie etwa in der Werkreihe „Stäbe (für Oberhausen)“ lösen sich die entstehenden Kunst werke Stück für Stück von ihrem Ursprungsort:Sie abstrahieren ihn nicht nur, sondern werden zudem in andere Wohn und Ausstellungssituationen versetzt, finden ihren Platz also in immer neuen Zusammenhängen. So wandeln sich die konkreten Orte, von denen die Arbeiten ihren Ausgang nehmen, letztlich zu universellen Räumen, in denen die Grenzen zwischen uns Betrachtern und
unserer Umgebung und der der Künstlerin aufgehoben sind. Wir alle werden zum Teil einer alternativen Geographie und gehen mit Dörte Behn auf Reisen.
In Rosenheim ist unser Ausgangspunkt bzw. „Point of Departure“, wie der Titel der aktuellen Ausstellung lautet, der Kunstverein und die Geschichte, die mit seinem Raum verbunden ist. Nur wenige von uns werden sich jemals seine Eigenheiten ins Bewusstsein gerufen haben. Dörte Behn dagegen hat den Ausstellungsraum in seinen architektonischen Einzelheiten befragt und die Antworten in ihre neuen Arbeiten ein ießen lassen. Ausgangspunkt für ihren Werkprozess
war ein „Koordinatensystem“, das sie aus einzelnen, gerissenen und mit Nieten verbundenen Papierstreifen hergestellt hat. Mit ihm wird nicht bloß die Länge und Breite des Ausstellungsraums in Rosenheim vermessen und damit dokumentiert. Die Fläche des Kunstvereins verwandelt sich in der Bodenarbeit zur mobilen und variablen Form; aus rationalen Zahlen wird ein Linienteppich, der sich unter unserem Blick hebt und senkt. Das gefundene Raster, vor allem aber dessen visueller Effekt setzt sich in einer
Reihe neuer Papierarbeiten fort: Mit Graphit, Klebepunkten, Fäden und Faltungen versetzen sie unser Auge in Bewegung, das zwischen gestalteten und ungestalteten Flächen, Vorder und Hintergrund, au iegenden und durchscheinenden Linien hin und herspringt.
Wie selbstverständlich finden Dörte Behns Gestaltungsprinzipien dabei Entsprechung in der Vergangenheit des Kunstvereins. 1907 beginnt Johann Klepper in Rosenheim mit der Serienproduktion eines Bootes, das sich heute noch großer Beliebtheit erfreut.9 Eine faltbare, hölzerne Unterkonstruktion machte es möglich, das Kajak in seine Einzelteile zu zerlegen und in Taschen verstaut auf Reisen mitzunehmen. In den 1920erJahren gelang es der Firma darüber hinaus, einen wasserdichten Stoff aus gummiertem
Gewebe zu entwickeln, mit dem nicht nur die Boote überzogen wurden, sondern der das Produktsortiment um Artikel wie Mäntel oder auch Zelte erweiterte: „Fahr fröhlich in die weite Welt mit Klepperboot und Klepperzelt“, liest man auf einem Werbeplakat der Zeit. Schon in den zwanziger Jahren wurde auf einem Klepperboot nicht nur der Atlantik überquert; Expeditionen auf den Booten führten durch Asien und Amerika bis ins große Eis nach Grönland.
Der Kunstverein Rosenheim hat sein Quartier heute in der ehemaligen Näherei des Klepperwerkes. Es lag nahe, dass Dörte Behn sich auch diese Eigenschaft des Kunstvereins aneignete. Die sechs Strebepfeiler, die für Rosenheim entstanden sind, funktionieren über „das Prinzip K* wie Klepper“, um noch einmal mit dem Titel der Ausstellung zu sprechen. Ihnen liegt eine faltbare Unterkonstruktion zugrunde, die mit einem Stoffüberzogen ist. Gleichzeitig offen baren uns die 1,70 m hohen Elemente aber auch, dass Maß und Gewicht nicht nur in der Architektur relativ sein können: Ebenso wie die Wand, für die sie bestimmt sind, tragen die Pfeiler keine Last.
Galileo Galilei, einer der wohl berühmtesten Vermesser der Welt und Begründer der mathematisch orientierten Naturwissenschaften, bekennt 1623 in seiner Schrift „Il Saggiatore“: „Die Philosophie steht in jenem großen Buch geschrieben, das uns ständig offen vor Augen liegt (ich spreche vom Universum). Aber dieses Buch ist nicht zu verstehen, ehe man nicht gelernt hat, die Sprache zu verstehen, [...] in der es geschrieben ist. Es ist in der Sprache der
Mathematik geschrieben, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren. Ohne diese Mittel ist es dem Menschen unmöglich, ein einziges Wort [...] zu verstehen; ohne sie ist es ein vergebliches Umherirren in einem dunklen Labyrinth.“10
Ich hoffe, Ihnen einen Wegmesser an die Hand gegeben zu haben, mit dem Sie die einzelnen Punkte auf Ihrer Route entlang der Werke von Dörte Behn verbinden können, damit sich so – statt einem Labyrinth – ein neuer Raum vor Ihnen öffnet.
Der Text entstand zur Eröffnung der Ausstellung „Dörte Behn. Point of Departure / Der Raum und das Prinzip K* wie Klepper“ am 15. Juni 2018 im Kunstverein Rosenheim.
1 Vgl. Auer, Alfred: Das Vermessen der Welt, in: Seipel, Wilfried (Hrsg.): Die Entdeckung der Natur. Naturalien in den Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts, Kat. Ausst., Innsbruck, Schloss Ambras, Juni–Oktober 2006 / Wien, Kunsthistorisches Museum, Februar–Mai 2007, S. 195–199.
2 Haag, Sabine (Hrsg.): Dresden & Ambras. Kunstkammerschätze der Renaissance, Kat. Ausst., Innsbruck, Schloss Ambras, Juni–September 2012, S. 110 f.
3 Ebenda, S. 111 und 114 f.
4 Busch, Gabriel Christoph Benjamin: Handbuch der Erfindungen, Bd. 12, Eisenach, 4. Auflage, 1822, S. 339.
5 Becker, Jörg: Modelle für die Einheit von Denken und Sehen, in: Dörte Behn. „Zwei Zimmer“. Modelle und Zeichnungen, Kat. Ausst., Saarbrücken, Saarländisches Künstlerhaus, Juni–August 2002, o. S.
6 Vgl. CremerBermbach, Susannah: Der Raum als Gegenstand – zu den Arbeiten von Dörte Behn, in: Stöcker, Jens / Weber, Ulrike (Hrsg.): Dörte Behn. Der Raum als Gegenstand. Zeichnungen / Objekte / Modelle, Kat. Ausst., Kaiserslautern, TheodorZinkMuseum / Architekturgalerie der TU Kaiserslautern, Mai–September 2013, S. 10–15, hier S. 11 .
7 Dörte Behn im Gespräch mit Nadine Engel am 4. Juni 2018 in Berlin.
8 Vgl. Dörte Behn. Stäbe (für Oberhausen), Kat. Ausst., Oberhausen, Verein für aktuelle Kunst, August–September 2015, Berlin, 2016.
9 Hier und im Weiteren www.klepper.de (14.6.2018).
10 Pernkopf, Elisabeth: BilderSprache in den Naturwissenschaften, in: Esterbauer, Reinhold / Pernkopf, Elisabeth / Ruckenbauer, HansWalter (Hrsg.): Wortwechsel. Sprachprobleme in den Wissenschaften interdisziplinär auf den Begriff gebracht, Würzburg 2007, S. 127–138, hier S. 127.